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  Deutschlands „tiefes Bedauern” in Afghanistan

Conn Hallinan 

„Wir bedauern zutiefst” sind Worte, denen fast immer irgendwelche schrecklichen Dinge folgen. Sie wurden geäußert vom deutschen Verteidigungsminister Franz Joseph Jung nach dem Luftüberfall am 4. September, mit dem rund hundert Afghanen getötet wurden. Er fuhr fort mit der Standardklausel, die derartige Entschuldigungen gleich schon verdächtig erscheinen lässt: „Wir hatten verlässliche Informationen, dass unsere Soldaten in Gefahr waren.“ 

Jung hatte natürlich keine. Die Lüge des Ministers hatte allerdings weniger zu tun mit dem militärischen Grundinstinkt der Verlogenheit als mit der Arithmetik der deutschen Bundestagswahlen.

Die Afghanen, die meisten von ihnen Bauern aus einem nahegelegenen Dorf, wurden verbrannt, um sicher zu stellen, dass die Christlich Demokratische Union (CDU) der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und die Sozialdemokratische Partei (SDP) des Außenministers Frank Walter Steinmeier für ihre Unterstützung des Krieges nicht zu viele Federn lassen mussten.

Diese Geschichte lässt einem die Haare zu Berge stehen.

Die Bombardierung der Tanklastwagen

Laut dem Spiegel bekam am 4. September um 8 Uhr abends ein Beamter des deutschen Nachrichtendienstes in der nördlichen Provinz Kunduz von afghanischen Sicherheitskräften einen Anruf mit der Information, dass die Taliban zwei Tanklastwagen entführt hätten. Sein Befehlshaber Oberst Georg Klein forderte Luftaufklärung an und ein U.S.-B-1B-Langstreckenbomber ortete die Tankwagen, die im Sand des Kunduzflusses steckengeblieben waren. Der B-1B schickte Aufnahmen, die aber offenbar unscharf, dunkel und schwer erkennbar waren.

Um 10 Uhr abends teilte ein ortsansässiger afghanischer Informant Klein mit, dass keine Zivilisten in der Nähe der Fahrzeuge seien, aber eine Menge Taliban, darunter vier Anführer. Kurz nach 1 Uhr früh tauchten zwei F-15 Kampfflugzeuge auf.

Gemäß den Allgemeinen Bestimmungen für die Vorgangsweise bei Einsätzen und Standardoperationen – das Militär kleidet Scheußlichkeiten gerne in die Sprache von Handbüchern – durften die Tankwagen nicht angegriffen werden. Erstens waren keine NATO-Truppen am Schauplatz. Zweitens reicht ein einzelner Informant nicht aus, um einen Angriff auszulösen. Und drittens war es kein „zeitsensitives“ Ziel, das heißt keines, das sich irgendwohin bewegte. Die Tanklaster waren schon seit vier Stunden festgefahren.

Klein jedoch blieb bei seiner Anforderung eines Luftangriffs, sogar nachdem die F-15-Piloten ihn aufgefordert hatten, zu bestätigen, dass deutsche Kräfte im Spiel waren und die Tankwagen eine „unmittelbare Bedrohung” darstellten. Auf seine Bestätigung dieser beiden Punkte hin warfen die Flugzeuge zwei GBU-38 radargesteuerte Bomben ab, jede mit einem 500-Pfund-Sprengkopf. Das Ziel löste sich in einem riesigen Feuerball auf. 

Soweit bekannt ist Bundeswehroberst Klein kein übereifriger Nachzügler der Wehrmacht. Er trinkt Tee, besucht die Oper und sorgt sich um seine Männer. Als ein afghanischer Bub an einer Straßensperre erschossen wurde, entschuldigte er sich persönlich bei der Familie.

Was brachte ihn also dazu, einen Angriff zu veranlassen , der gegen alle Einsatzregeln verstieß?

Politische Überlegungen

„Klein wusste, dass die Aufständischen in einem früheren Vorfall einen Tanklastwagen in Kandahar gesprengt hatten, wobei Dutzende Zivilisten getötet wurden,“ schrieb der Spiegel. „Er war auch von einer Reihe führender Politiker besucht worden, von Merkel und Steinmeier bis zum Verteidigungsminister Franz Joseph Jung (CDU) und dessen Vorgänger Peter Struck (SPD). Klein weiß, dass diese nichts mehr fürchten als einen Angriff auf deutsche Truppen kurz vor den Bundestagswahlen.“ 

Laut der deutschen Zeitschrift sagten afghanische Informanten Klein im vergangenen August, dass die Taliban einen Angriff auf das deutsche Militärlager planten, bei dem Lastkraftwagen verwendet werden sollten. Klein sollte allerdings gewusst haben, dass es unwahrscheinlich war, dass so ein Angriff mit großen, langsamen Tanklastwagen versucht wurde.

In der Tat hatte Mullah Shamsuddin, der Anführer der Talibankämpfer, die die Lastwagen erobert hatten, keine Absicht, diese als Selbstmordbomben zu benutzen. „Tanklastwagen sind viel zu unpraktisch in einem Gelände wie diesem,“ sagte er dem Spiegel in einem telefonischen Interview. „Wir planten einfach, diese nach Chahar Dara zu fahren und den Treibstoff dort zu entladen. Nachschub können wir immer brauchen.“

Statt dessen blieben die Tanklaster stecken und die Taliban stellten örtliche Bauern – viele mit vorgehaltener Waffe – an, zu versuchen, diese aus dem Sand herauszuziehen. Die Dorfbewohner brachten auch Kannen für den Treibstoff mit. „Wir wussten, dass der Treibstoff gestohlen war, aber wir wurden gezwungen hinzugehen,“ sagte der junge Bauer Mohammed Nur. Als die Bomben einschlugen, wurde er schwer verletzt. Seine beiden Brüder wurden getötet.

Als die Geschichte an die Öffentlichkeit kam, warfen die Deutschen voll die Vertuschungsmaschinerie an. Hauptmann Christian Dienst vom Verteidigungsministerium teilte den Medien mit, dass „unseres derzeitigen Wissens keine Zivilisten anwesend waren“ und scholt die Presse ob ihrer Mutmaßungen, während sie „in ihren warmen Sesseln in Berlin“ saß. Das Ministerium gab weiters die falsche Geschichte aus, dass Klein Aufklärungsdrohnen verwendet und dass es eine zweite Informationsquelle gegeben habe.   

Aber als immer mehr Beweise auftauchten, begannen die Leugnungen des Ministeriums zu zerbröckeln. Befragungen durch die Gruppe Afghan Rights Monitor ergaben, dass sich unter den Toten 12 Taliban und 79 Dorfbewohner befanden. Bald stand das Verteidigungsministerium unter Beschuss nicht nur durch die eigenen Medien, sondern auch aus den Reihen seiner NATO-Verbündeten. Fast noch bevor die Flammen am Ufer des Kunduzflusses ausgingen, wurden die langen Messer gezückt.

Die Reaktionen der Verbündeten

Die Vereinigten Staaten von Amerika schlugen als erste zu. U.S.-Oberbefehlshaber General Stanley Mc Chrystal traf in Kunduz zusammen mit einem Reporter der Washington Post ein. Als die Deutschen damit nicht einverstanden waren sagte McChrystal, dass der Journalist nur Hintergrundmaterial für ein Buch sammle. Aber am 6. September brachte die Washington Post einen Artikel, in dem die ganze Geschichte den Deutschen in die Schuhe geschoben wurde, unter Verwendung von Zitaten von diesem Treffen. 

Deutsche Befehlshaber beschuldigten darauf hin verärgert die Vereinigten Staaten von Amerika, „absichtlich Falschinformation an die Öffentlichkeit zu bringen.“

Als nächste kamen Franzosen und Briten. Das Bombardement war „ein großer Fehler,“ sagte der französische Außenminister Bernard Kouchner, während der Außenminister des Vereinigten Königreichs David Miliband eine „dringende Untersuchung“ forderte.

Der afghanische Präsident Hamid Karzai verurteilte den Angriff als “großen Fehler” und fügte hinzu, dass sich McChrystal entschuldigt und gesagt habe, er habe nicht „den Befehl zum Angriff gegeben.“

Die unterschwellige Verstimmung unter den NATO-Aliierten kommt langsam an die Oberfläche. Als der Labour-Abgeordnete Eric Joyce vor kurzem von seiner Position als parlamentarischer Berater des britischen Verteidigungsministers zurücktrat, da er den Krieg nicht länger unterstützen konnte, gab er eine Breitseite gegen andere NATO-Staaten ab. „Viele sagen, dass Großbritannien kämpft, Deutschland zahlt, Frankreich rechnet und Italien sich drückt.“

Sogar in den Vereinigten Staaten von Amerika haben einige begonnen, gegen das aufzutreten, was sie als Mangel an Engagement in der NATO sehen. Während die „Amerikaner das [den Krieg] unterstützen,“ sagte der U.S.-Abgeordnete John Murtha, mächtiger Vorsitzender des Unterausschusses für militärischen Nachschub The Cable, „tun die Europäer verdammt gar nichts.“ Mit Stand 17. September haben die Vereinigten Staaten von Amerika in Afghanistan 830, das Vereinigte Königreich 216, Kanada 130, Deutschland 38, Frankreich 31, Dänemark 27, Spanien 25, Italien 21 und die Niederlande 21 Soldaten hingeopfert. Die gesamten Verluste der Aliierten in diesem Krieg betragen 1.403. Die Zahl der getöteten afghanischen Zivilisten wurde laut UNO im vergangenen Jahr um 24% gesteigert, ein Drittel davon durch Luftangriffe.

Diese Zusammenrottung der Aliierten war ein Schock für die Deutschen, die lange ihre Fachkompetenz in Afghanistan hervorgehoben und andere NATO-Staaten wegen ihrer Gleichgültigkeit in der Frage ziviler Opfer kritisiert hatten. „Deutsche hauen“ war plötzlich in Mode. Wie ein Diplomat dem Spiegel sagte, war es „Schadenfreude über die ewigen Besserwisser.“

Der Krieg kommt heim

Das Massaker in Kunduz brachte plötzlich den Krieg heim zu den Deutschen. Die Parteien, die bei der Entsendung der Truppen kollaboriert hatten – die Grünen, die CDU und die SPD – hatten sich lange bemüht, Afghanistan aus der Sicht zu halten. Jung vermied das Wort Krieg, Merkel muss erst noch am Begräbnis eines Soldaten teilnehmen und Steinmeier zaubert auf einmal ein „10-Punkte-Programm für Afghanistan“ hervor, als wäre die Situation in diesem kriegszerrissenen Land mit der Sanierung eines Kurhotels gleichzusetzen.

Nach dem Angriff rief die Linkspartei, die einzige Partei, die gegen den Krieg ist, zu einem größeren Antikriegsprotest beim Brandenburger Tor auf. In den Wahlen vor kurzem steigerte die Linkspartei ihre Wählerstimmen um 3,7% und die Grünen um 2%, während die Sozialdemokraten eine Abreibung verpasst bekamen und um 11,1% abfielen. Einziger Gewinner auf der Rechten waren die Freien Demokraten, die ihre Wählerstimmen um 4,9% steigern konnten, während Merkels CDU um 1,4% abfiel.

Zu guter Letzt könnte Kunduz der Wendepunkt für die NATO sein, der Vorfall, der das Märchen platzen ließ, dass es bei dem Einsatz in Afghanistan um das Graben von Brunnen, den Bau von Schulen und darum geht, den Frieden zu bringen.

“Einfache Dorfbewohner wurden getötet. Es waren keine Taliban,“ sagte Dr. Saft Sidique vom Krankenhaus in Kunduz. „Der deutsche Luftangriff hat alles geändert. Die Sympathie für die Deutschen ist verschwunden. Wäre es bei Ihnen anders, wenn Ihr Heimatland bombardiert würde?“

Nach einem alten Spruch gibt es keinen besseren Rekrutierungswerber als einen Luftangriff. Das kam auch zum Ausdruck bei einem Treffen der Provinzregierung von Kunduz kurz nach dem Angriff. Eine Anzahl von Leuten dort lobten den Luftangriff. Aber am Ende des Treffens erhob Maulawi Ebadullah Ahadi von Chahar Dara, einer Stadt, die die Taliban beherrschen, seine Hand: „Brüder, jeder dieser Getöteten hat hundert Verwandte, die gegen die Regierung kämpfen werden. Bomben säen die Saat des Hasses.“

 
     
  erschienen am 1. Oktober 2009 auf > Foreign Policy in Focus > www.antiwar.com > http://original.antiwar.com/hallinan/2009/09/30/germanys-deep-regret-in-afghanistan/  
     
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