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  Die Kunst, für sein Land zu lügen

Eric S. Margolis

Die fortlaufenden Enthüllungen von WikiLeaks waren sehr lustig und eine willkommene Aufheiterung in der düsteren Zeit zwischen Herbst und Winter. Es war, wie wenn ein Klatschblatt und ein außenpolitisches Magazin sich zusammentun. Ignorieren Sie alle Aufschreie des offiziellen Washington über Verletzungen der Sicherheit. Bürokraten auf der ganzen Welt hassen nichts mehr, als zu sehen, wie ihre Murkserei, ihr doppeltes Gemoppel und ihre Inkompetenz den Augen der Öffentlichkeit vorgeführt werden.

Weit entfernt davon, der „9/11 der Diplomatie” zu sein, wie der aufgeregte italienische Außenminister meinte, bieten die WikiLeaks-Veröffentlichungen nicht viel Neues – zumindest nicht für einen alten Journalisten und politischen Beobachter. Viel amüsanter Tratsch, aber keine Bomben – noch. 

Die meisten anständigen Menschen sind wahrscheinlich schockiert, wenn sie lesen, wie plump Washington mit Freunden wie mit Feinden umgeht, seine Einschüchterungspolitik betreibt, seinen Einsatz von Diplomaten als Hilfsspione und seine abfälligen Bemerkungen über Spitzenpolitiker anderer Länder.

Der amerikanische Zyniker Ambrose Bierce definierte im 19. Jahrhundert Diplomatie treffend als „die patriotische Kunst, für sein Land zu lügen.“

Jedenfalls hat WikiLeaks der Öffentlichkeit ein deutlicheres Bild von Afghanistan als einer Kloake von Korruption und Drogenhandel vermittelt. Naive Kanadier, die den Agitprop ihrer Regierung geglaubt hatten, diese kämpfe für Demokratie und Menschenrechte in Afghanistan, waren besonders schockiert und betroffen. 

Es war auch interessant zu beobachten, wie die diplomatischen Depeschen der Vereinigten Staaten von Amerika viele pakistanische Politiker und führende Generäle als nicht viel besser als gehorsame Hausdiener Onkel Sams bloßstellten. Mehr Pakistaner werden jetzt glauben, dass ihr Land wirklich von den Vereinigten Staaten von Amerika praktisch okkupiert worden ist.

Wie es im alten Calypsosong heißt: „Sie arbeiten für den Yankee Dollar!“

Für zynische Profis zeigte WikiLeaks wieder einmal den üblichen Gang der Dinge. Wieder einmal wird bestätigt, dass große Mächte Gehorsam verlangen, nicht internationale Zusammenarbeit oder verbesserte Beziehungen.

Nachdem ich beinahe in den Dienst des Außenministeriums der Vereinigten Staaten von Amerika eingetreten wäre, kann ich bestätigen, dass die von WikiLeaks veröffentlichten Depeschen von Berufsdiplomaten geschrieben worden sind, die sich fast immer auf der aktuellen Linie des Außenministeriums bewegen. Diese Depeschen sind offizielle bürokratische Berichte, nicht irgendwelche Sonderaufgaben, wie die meisten Menschen glauben. Sie sagen Washington genau, was es hören möchte.

Washington mitzuteilen, dass es sich irrt, ist für einen Diplomaten der sicherste Weg, an die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Ulan Bator, Mongolei oder Monrovia, Liberia versetzt zu werden. Oder überhaupt das Ende seiner Karriere zu erleben. Deshalb habe ich mich entschieden, den Job nicht anzunehmen, der mir in der Abteilung Mittlerer Osten angeboten worden ist. 

Ich habe erlebt, wie Diplomaten der Vereinigten Staaten von Amerika und des Vereinigten Königreichs, die es gewagt hatten, die Wahrheit zu sagen oder gegen die vorgegebene Linie zu sein, gefeuert oder kaltgestellt wurden. Wenn dir Hillary Clinton sagt, dass Usbekistan eine blühende Demokratie ist, ist es besser für dich, wenn du ihr glaubst und diesen Unsinn nachplapperst. 

Das ist der Grund dafür, dass es von WikiLeaks keine großen Überraschungen gegeben hat. Bemerkenswert ist das völlige Fehlen jeglicher Kritik an Israel ungeachtet der Tatsache, dass es so tief involviert ist in die Gestaltung der Mittelost-Politik der Vereinigten Staaten von Amerika. 

Auch die arabischen Alliierten der Vereinigten Staaten von Amerika werden mit Glacéhandschuhen behandelt. Kein Ton war bisher zu hören über gefälschte Wahlen in Ägypten, Menschenrechtsverletzungen durch Israel, Folter in Marokko oder über das außergewöhnlich brutale Regime in Algerien.

Dafür geht es die ganze Zeit um den Iran. Ja, die arabischen Führer fürchten und hassen den Iran und ziehen andauernd über diesen her. Sie sprechen allerdings nicht für ihre Völker, sondern nur für die von den Vereinigten Staaten von Amerika gestützten herrschenden Ologarchien, denen die Angst in den Knochen steckt, dass es in ihren Ländern zu einer Volksrevolution wie im Iran kommen könnte. 

Aber es gibt auch etwas in Sachen WikiLeaks, das mir gewaltig stinkt. Ich habe den Eindruck, dass die Texte schwer zensuriert worden sind oder sehr sorgfältig ausgewählt, ehe sie die Öffentlichkeit zu sehen bekam. Vieles scheint zu fehlen.

Die New York Times, einer der Empfänger des gesamten Pakets von tausenden weitergegebenen Depeschen, schien diese selektiv zu benutzen, um ihre kriegstreiberische Position gegenüber Afghanistan zu untermauern und Druck für Krieg gegen den Iran zu erzeugen. Die „Enthüllungen“ waren begleitet vom Beifall der israelischen Lobby, die die Kriegstrommeln gegen den Iran schlug.

Der Großteil der neokonservativ dominierten Medien und des Kongresses der Vereinigten Staaten von Amerika sind auf den fahrenden Zug aufgesprungen und beschimpfen WikiLeaks wegen „Verrat“ und „Terrorismus“ und verlangen seine Stilllegung – während sie gleichzeitig Teile der Enthüllungen verwenden, um den Krieg gegen den Iran voranzutreiben. Medien und Kongress der Vereinigten Staaten von Amerika scheinen die freie Meinungsäußerung vergessen zu haben.

Ein paar von Amerikas dämlicheren republikanischen Politikern forderten Anklagen wegen „Terrorismus“ gegen WikiLeaks-Gründer Julian Assange. Terrorismus ist zu Amerikas Universalbeschuldigung für jede lästige oder aufmüpfige Aktivität geworden, wie etwa die Bezeichnung „Staatsfeind“ unter den Sowjets.

Die Wogen der Entrüstung über die Enthüllungen schlagen hoch, gerade während die 16 Geheimdienstagenturen der Vereinigten Staaten von Amerika laut Berichten dabei sind, eine neue National Intelligence Estimate (NIE – Einschätzung der Nationalen Geheimdienste) herauszugeben, in der sie übereinstimmend zum Schluss kommen, dass der Iran keine Atomwaffen baut. Interessanter Zufall, gelinde ausgedrückt. 

Aus Washington ist zu erfahren, dass diese NIE das Ergebnis von 2007 bestätigt, nach dem der Iran jede Entwicklungsarbeit an Atomwaffen vier Jahre davor eingestellt hat. Vor dem Überfall auf den Irak 2003 wurden Berichte der CIA und der UNO, dass Saddam Husseins Regierung über keine Massenvernichtungswaffen verfüge, entweder ignoriert oder vom Weißen Haus vertuscht, das es eilig hatte, diesen Krieg zu beginnen.

Derzeit tobt in Washington ein wilder Kampf um die nächste NIE zwischen den Gruppen, die auf einen Krieg gegen den Iran drängen und den Geheimdiensten der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Pentagon. Es gibt noch immer höhere Funktionäre in Washington, die das nationale Interesse Amerikas an die oberste Stelle reihen und sich weigern, sich politischem Druck oder finanziellen Verlockungen zu beugen.

Der standhafte Admiral Dennis Blair, der letzte Direktor der nationalen Geheimdienste der Vereinigten Staaten von Amerika, wurde seines Amtes enthoben, weil er sich geweigert hatte, Behauptungen zu unterstützen, dass der Iran nukleare Waffen herstellt.

Präsident Barack Obama scheint diese explosive Angelegenheit auf Eis gelegt zu haben. Politisch verwundet und nicht in der Lage, alle Hebel der Macht des Präsidenten zu bewegen, scheint Obama nicht willens oder nicht imstande zu sein, gegen Israels mächtige Parteigänger aufzustehen, während die Kriegstrommeln immer lauter dröhnen.

In der Zwischenzeit macht WikiLeaks zumindest das, was Amerikas gewählte Anführer und angeblich freie Medien getan haben sollten: den Bürgern zu sagen, was wirklich läuft. Warten wir ab, welche weiteren ekeligen Geheimnisse ans Licht kommen, wenn der nächste Stein umgedreht wird.

 
     
  erschienen am 3. Dezember 2010 auf > ericmargolis.com > Artikel  
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