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  Das „1989“ der arabischen Welt?

Gwynne Dyer

LONDON - Es war die Stellungnahme der ägyptischen Armee, die alles wieder zurück brachte: „An das große ägyptische Volk, deine bewaffneten Kräfte, die die legitimen Rechte des Volkes anerkennen … haben keine und werden auch keine Gewalt gegen das ägyptische Volk einsetzen.“ In anderen Worten, macht weiter und stürzt Präsident Hosni Mubarak. Von uns aus geht das in Ordnung.

Das erinnerte mich an den Tag Mitte 1989, an dem in Moskau die erste große antikommunistische Demonstration stattfand. Es hatte bereits gewaltfreie Demonstrationen in anderen kommunistisch geführten Ländern wie Polen und Ungarn gegeben, aber das hier war Russland. Die gewaltige Menge, die die breite Gartenringstraße füllte, war sichtlich nervös, und ich hielt mich am Rand der Menge auf, damit ich mich gleich in einen Hauseingang retten konnte, sobald das Schießen begann.

Dann sah ich, dass Offiziere der Roten Armee unter den Demonstranten waren. Alles würde gut gehen: das Militär wollte den Wechsel gerade so wie alle anderen. So ist es heute auch auf dem Tahrir-Platz in Kairo: die Armee ist auf der Seite des Volkes. 

Die Stellungnahme der Armee läutete die Totenglocke für Mubaraks Regime, auch wenn dieser darauf besteht, dass er bis zu der für September angesetzten Wahl im Präsidentenpalast bleiben wird. Das wird nicht passieren. Eine Übergangsregierung unter der Führung anderer Leute wird die Wahlen organisieren. Die Anklänge an eine frühere Revolution machten mich allerdings nachdenklich: ist das das „1989“ der arabischen Welt?

1989 begann der Zusammenbruch der alten Ordnung in den „Satelliten“staaten, nicht im russischen Herz des Imperiums, wie auch der derzeitige Aufstand gegen die Situation der Araber in Tunesien begann, einem relativ kleinen und unbedeutenden arabischen Land. Der osteuropäische Erdrutsch begann erst im November 1989 alles hinwegzufegen, mit dem Fall der Berliner Mauer. Ist also Mubarak die  Berliner Mauer der arabischen Welt?  

Das könnte er sicher sein, da Ägypten das bevölkerungsreichste arabische Land ist, und die Taktiken und Ziele der Völker Tunesiens und Ägyptens denen der friedlichen Revolutionäre in Osteuropa 1989 ähneln. Auch die Araber benutzen mit Erfolg gewaltfreie Taktiken, um unwiderstehlichen moralischen Druck auf autokratische Regimes auszuüben, und sie fordern die gleichen Dinge: Demokratie, Gerechtigkeit und Prosperität.

Die Formel der Gewaltfreiheit wirkte in zwei bis drei Wochen in Tunesien, und es sieht so aus, als würde es in Ägypten etwa gleich lang dauern. Zuerst ist der Präsident aufsässig und schickt Polizeistrolche auf die Straßen, um die Demonstranten anzugreifen, aber er kann keine massive Gewalt ausüben, weil er weiß, dass die Armee einem Schießbefehl nicht Folge leisten würde. Ziemlich ähnlich wie 1989 in Osteuropa.

Dann beginnt der Rückzug. Zuerst verspricht der Präsident Reformen. Dann, wenn das nicht hilft, feuert er die ganze Regierung und bildet ein neues Kabinett (dieses allerdings besteht immer noch hauptsächlich aus gehassten Regimeanhängern). Dann verspricht er, bei der nächsten Wahl seine Machtposition aufzugeben, behauptet aber, dass er für die Dauer der Übergangsperiode bleiben muss, um „Stabilität“ zu garantieren. Zuletzt besteigt er das Flugzeug und fliegt ab.

Tunesien ist diesen ganzen Weg seit Mitte Dezember gegangen, und Ägypten ist gerade in der vorletzten Phase. Andere arabische Länder könnten auf dem gleichen Weg sein: die Demonstrationen in Algerien und Jemen begannen im Dezember. In Jordanien sind sie nur drei Wochen alt, aber der König hat schon die gesamte Regierung entlassen und ein neues Kabinett bestellt mit dem Auftrag, „wirkliche politische Reformen“ durchzuführen. 

Dann gibt es Schlupfwinkel wie Syrien, dessen Präsident Bashar Assad letzte Woche damit angab, dass sein Regime sicher sei, da es eine „Sache“ verfolge: die Konfrontation mit Israel. Dazu wäre noch zu sagen, dass die syrische Armee wahrscheinlich auf Demonstranten das Feuer eröffnen würde, da sie von der ethnischen Minderheit dominiert ist, zu der Assad selbst gehört.

Der Irak ist durch die ethnischen Konflikte nach der amerikanischen Okkupation so paralysiert, dass keine Massenbewegung des Volkes möglich ist. Saudiarabien und die kleineren Golfstaaten haben nahezu sicher kein Risiko einer Volksrevolution, da sich ihre Völker aufgrund ihres Erdöls einer großen Prosperität erfreuen. 

Nichtsdestoweniger ist der Druck in Richtung Änderung in den meisten arabischen Ländern offensichtlich.

Die Hälfte der Bevölkerung der arabischen Welt könnte in einem oder zwei Jahren unter anderen, demokratischeren Regierungen leben. Die Europäer brachten genau das in gerade einmal zwei Jahren zustande; warum sollten die Araber nicht das gleiche schaffen können?

Natürlich können sie, aber die Zeit nach 1989 in Osteuropa war nicht zur Gänze glücklich. Das unmittelbare Ergebnis in den meisten Ländern war ein Abfall des Lebensstandards, nicht ein Ansteigen. Ein bedeutenderes Land, das frühere Jugoslawien, wurde durch Krieg zerrissen. Es gab verschiedene kleinere Kriege entlang den ethnisch zersplitterten südlichen Grenzen der ehemaligen Sowjetunion, und Russland endete schließlich unter einer milderen Art von autoritärer Herrschaft.

Die Risiken für die arabische Welt sind vergleichbar: kurzfristiger wirtschaftlicher Rückgang, Bürgerkrieg, Aufkommen neuer autoritärer Regimes, wahrscheinlich angeheizt von islamistischen Ideen. Nichts ist perfekt. Was wir aber in Tunesien und Ägypten sehen, und vielleicht auch anderswo sehen werden, ist eine große Befreiung nicht nur von der Diktatur, sondern von Jahrzehnten der Korruption und Hoffnungslosigkeit. Das ist sehr viel wert.

 
     
  erschienen am 5. Februar 2011 in > The Japan Times > Artikel  
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