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  Realisten spielen Videospiele

Robert C. Koehler

 

Der heilige Augustinus segnet die Mordliste. Und Liberalismus ist nur eine nettere, geschicktere, schlauere PR-Methode für die Durchführung der brutalen Arbeit des Imperiums.

Siehe da, Präsident Obama am zweiten Tag seiner Präsidentschaft, flankiert von pensionierten Generälen und Admiralen, wie er eine Regierungsverordnung unterschreibt, mit der er Folter verbietet und die baldige Schließung des Gefängnisses in Guantánamo Bay ankündigt – mit der er, anders gesagt, einige ernsthafte Wahlversprechen erfüllt.

„Was der neue Präsident nicht sagte,“ erklärt ein vor kurzem in der New York Times erschienener Bericht in schadenfroher Unterwürfigkeit vor den Ironien der Militärwirtschaft, „war, dass die Anordnungen ein paar spitzfindige Hintertürchen enthielten.“ Wie sich herausstellte, ließen diese Hintertürchen reichlich Platz für die neue Administration, das Krieg gegen den Terror-Geschäft der Bush-Ära fortzusetzen wie gehabt und so umstrittene Praktiken wie außergesetzliche Auslieferung, Militärkommissionen und unbefristete Anhaltung beizubehalten. 

„Sie widerspiegelten einen noch immer ungewohnten Barack Obama,“ fahren die Reporter der New York Times fort, „einen Realisten, der anders als einige seiner glühenden Anhänger sich nie von seiner eigenen Rhetorik hinreißen ließ.“

Und Obamas Unterstützerbasis wird im Nu abgetan als eifrige Dummköpfe, die tatsächlich all diesen Unsinn glaubten über ... was war das noch? Ja richtig, Hoffnung. Wenn Sie gestresst sind durch Menschenrechtsverletzungen, Folter, unbefristete Anhaltung, vorbeugenden Einmarsch, das Hinschlachten von Zivilisten, die Okkupation von souveränen Ländern, Drohnenkriegsführung, von der Regierung genehmigten Mord, den Abbau von Verfassungsrechten, den Einsatz von abgereichertem Uran, giftigen Militärmüll, die Widersinnigkeit des Krieges und dergleichen, dann, mein Freund, sind Sie kein Realist. 

Realisten nehmen zur Kenntnis, dass bestimmte menschliche Wesen entbehrlich sind.

Der Artikel, der Ende Mai veröffentlicht wurde mit der Überschrift „Geheime ‚Tötungsliste’ erweist sich als Test für Obamas Prinzipien und Willen,“ ist ein 6.000 Wörter umfassendes Opus, das uns auf eine Tour in Obamas Kriegszentrale führt. Er ist ein bemerkenswertes Stück Arbeit, beruht auf Interviews mit drei Dutzend von des Präsidenten derzeitigen und ehemaligen Beratern. Die hauptsächliche Enthüllung der Geschichte ist, dass Obama und sein Sicherheitsteam sich jede Woche treffen, um die „Steckbriefe“ verdächtiger al-Qaeda-Mitglieder in Gebieten wie Pakistan, Jemen und Somalia zu diskutieren und diejenigen zu „nominieren,“ die mit Drohnenattacken umgebracht werden sollen. Der Präsident besteht darauf, das letzte Wort über Leben und Tod zu haben. 

Die Geschichte ist ein im Großen und Ganzen unkritisches Abfeiern dieses Vorgangs und von Obamas „Pragmatismus” – das heißt seinen Verzicht auf Gutmenschengrundsätze, wann immer diese unbequem werden und in den Weg von Amerikas Sicherheit geraten.

Tatsächlich erweist Obama sich als toller Oberbefehlshaber, entscheidungsfreudig und hart, dennoch versiert in liberaler Rhetorik und vertraut mit der Theorie des gerechten Krieges der heiligen Augustinus und Tomas von Aquin. So kann er im Gegensatz zu George Bush seinen Krieg auch Intellektuellen als moralisch akzeptabel andrehen, ungeachtet wie zynisch er den Grundsatz „Du sollst keine Zivilisten töten“ dabei verbiegen mag.

Eines der krassesten Beispiele für den Zynismus, den die Geschichte enthüllt, die verdientermaßen viele kritische Beurteilungen erhalten hat, betrifft die Methode, mit der das Obama-Team die Anzahl der zivilen Opfer, die seine Drohnenattacken verursacht haben, reduzieren oder zumindest im Rahmen halten konnte:

Obama wendete einfach „eine strittige Methode für die Erfassung von zivilen Opfern an, die ihn kaum angreifbar machte. Im Endeffekt zählen alle Männer im militärfähigen Alter in einer Angriffszone als feindliche Kämpfer ... außer es gibt eindeutige Informationen, die posthum ihre Unschuld erweisen.“

Aber so ist der Realismus. Meine diesbezüglichen Bedenken betreffen nicht nur die zynische Weiterführung und Ausweitung von Bushs brutalem, destabilisierendem Krieg, sondern die raffinierte Ausklammerung von aller wesentlichen Kritik daran durch die New York Times, die bis in Randzonen des Fanatismus reicht. In der Geschichte ist keine Rede von Alternativen zu dem gewalttätigen Streben nach „Sicherheit“ und Eigeninteresse, es wird nicht anerkannt, dass solche überhaupt existieren. Die einzigen erwähnten konträren Standpunkte kommen aus dem Bereich von Dick Cheney und den fanatischen Neokonservativen und dienen hauptsächlich dem Zweck, die moderate Angemessenheit von Obamas Krieg zu bestätigen.  

Dennoch ist nichts gemäßigtes oder vernünftiges an dem Ganzen, oder, soweit ich das sagen kann, auch nur „pragmatisches“ oder „realistisches.“ Die Botschaft, die ich dem Bericht in der New York Times entnehme, ist, dass der Umgang mit dem Terrorismus einfach weniger frustrierend ist, wenn er reduziert wird auf ein logisches, völlig abstraktes Sieg- oder Niederlage-Problem, anstatt langwirkende Prinzipien oder eine Überprüfung der amerikanischen Politik und Eigeninteressen ins Spiel zu bringen. In erster Linie zählt, dass die Machthaber sich ständig versichern können, dass sie „etwas tun,“ indem sie böse Typen aus dem Spiel nehmen. (Realisten spielen Videospiele!) 

Tiefer geht die Geschichte in der New York Times nicht, allerdings beschreiben die Autoren Obama als einen, der „dem metastasierenden Feind in neue und gefährliche Länder“ folgt. Warum metastasiert der Feind? Sie erwähnen später, dass von Pakistan und Jemen „gesagt werden kann, dass sie weniger stabil und feindseliger gegen die Vereinigten Staaten von Amerika eingestellt sind als damals, als Herr Obama Präsident wurde.“

Der Realist Obama verfolgt eine Politik, die nicht funktioniert, nicht einmal nach seinen eigenen Maßstäben, aber die Machthaber einschließlich der Medien scheinen das nicht zu bemerken. Inzwischen schützt uns die geheime Mordliste – vor denen, die behaupten, dass Sicherheit die Schaffung einer gerechten und humanen Welt voraussetzt.

 
     
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