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  Fragen über Assange, die die Medien nicht stellen werden

Edward Wasserman

 

Ich bin mit meinen Medienkollegen sehr übers Kreuz geraten, seit ich finde, dass das Schicksal von WikiLeaks und dessen belagertem Gründer Julian Assange eine fesselnde Geschichte ist. Andere Medien sind nicht dieser Meinung. Der Druck auf Assange, der Zuflucht in der ecuadorianischen Botschaft in London gesucht hat, ist ein Randthema, eine schrullige Auseinandersetzung um einen merkwürdigen weißhaarigen Spinner, den Journalisten geringschätzen, der eine Welle von Geheimnissen bekannt machte, die die Behörden ärgerten und den die Medien der Vereinigten Staaten von Amerika ohnehin weitgehend ignorierten.   

Es stimmt, dass es auch um Sex geht, nachdem Schweden die Auslieferung Assanges verlangt, um Antworten auf Beschwerden über Schlafzimmerverfehlungen in Stockholm zu bekommen. Aber sogar das bringt der Geschichte noch lange nicht die Aufmerksamkeit, mit der der imbezile Kandidat für den Senat der Vereinigten Staaten von Amerika aus Missouri überhäuft wird, der glaubt, dass Frauen über die angeborene Fähigkeit verfügen, von Vergewaltigern nicht schwanger zu werden.

Ich denke, dass die Angelegenheit eine sehr große Bedeutung hat und von den Medien der Vereinigten Staaten von Amerika untertrieben wird und darüber zu wenig berichtet worden ist. WikiLeaks, das von Assange gegründete weltweite Aufdeckungsnetzwerk kam 2010 mit einem Schlag in die Schlagzeilen. Es hatte aggressiv Dokumente fremder Regierungen und privater Netzwerke veröffentlicht – Korruption in Kenia aufgedeckt, Steuerhinterziehung durch eine britische Bank, Giftmüll in Westafrika, interne Papiere von Scientology.

Aber WikiLeaks wurde weltberühmt im April 2010, als seine Aufdeckungen die Vereinigten Staaten von Amerika betrafen. Die erste war die Veröffentlichung eines Schießvideos, das zeigte, wie ein Helikopter der Vereinigten Staaten von Amerika Menschen auf einer Straße in Bagdad massakrierte, darunter Zivilisten, Journalisten von Reuters und ein Kind. Es folgten Kriegsberichte zuerst aus dem Irak, dann aus Afghanistan, tausende militärische Dokumente und in der Folge diplomatische Depeschen der Vereinigten Staaten von Amerika, über 250.000 aus etwa 100 Ländern, die von einer schnell gegründeten Kooperative von vier führenden Nachrichtenorganisationen veröffentlicht wurden.

Das war der gewaltigste Angriff aller Zeiten auf offizielle Verschwiegenheit. 

Der Gegenangriff war anhaltend und effektiv. Die Vereinigten Staaten von Amerika sperrten einen Datenbeamten der Armee namens Bradley Manning ein wegen Datenweitergabe und hielten ihn fast ein Jahr lang unter brutalen Umständen. Er befindet sich seit mehr als 800 Tagen hinter Gittern und könnte zu 52 Jahren Haftstrafe verurteilt werden. Es wird angenommen, dass er unter Druck gesetzt wird, Assange als Mitverschwörer hineinzuziehen.

Dann entschlossen sich plötzlich die Firmen, die das Geld weiterleiteten, von dem WikiLeaks abhängig war, ihre Dienste einzustellen. Visa, Master Card, PayPal, Western Union, Amazon und Bank of America grummelten etwas wie „indirekte Begünstigung“ von illegalem Verhalten, und das Spendenaufkommen von WikiLeaks stürzte um 90% ab.

Und gegen Ende 2010 kamen die Anschuldigungen gegen Assange wegen sexuellem Missbrauch von zwei schwedischen Frauen.

Die näheren Umstände sind trübe, aber was zählt, ist dass Assange behandelt wurde mit einer Verbissenheit, die üblicherweise fliehenden Kriegsverbrechern vorbehalten ist, und bis er in der Botschaft von Ecuador um Asyl ansuchte, unter Hausarrest stand, während er gegen die Auslieferung kämpfte. Assange sagt, dass es in Wirklichkeit darum gehe, ihn nach Stockholm zu bekommen, damit er dann leichter an die Vereinigten Staaten von Amerika ausgeliefert werden kann.

Jetzt hält er sich versteckt in den zehn Räumen der Botschaft von Ecuador, aber abgesehen von gelegentlichen Fotos der spektakulär aufgeblasenen Polizeipräsenz um die Ecke von Harrod´s – rund 50 Polizisten sind´s – tut sich nichts in der Sache.

„Wenn man bedenkt, dass er sich einen Namen machte mit der größten Veröffentlichung von geheimen Regierungsdokumenten in der Geschichte,“ schrieb Seumas Milne in The Guardian, „dann sollte man annehmen, dass zumindest eine Spur von Besorgnis unter denen zu finden sein müsste, die mit dem Geschäft der freien Information befasst sind.“

Milne beklagte die Abscheu der britischen Medien für Assange; in den Vereinigten Staaten von Amerika ist das Problem nicht Feindseligkeit, sondern Gleichgültigkeit. Wichtige Fragen werden daher nicht gestellt:

  • Erstens, wessen ist er genau beschuldigt, was er in Schweden gemacht haben soll – und wie wird mit solchen Beschuldigungen üblicherweise verfahren? Werden die ähnlicher Dinge Beschuldigten immer wie hochrangige internationale Flüchtlinge behandelt oder wird Assange hier in unüblicher Weise bevorzugt? Und warum kann er nicht in London befragt werden?
  • Zweitens, welche Verbindung gibt es nach Washington? Haben Regierungsvertreter der Vereinigten Staaten von Amerika die Schweden gedrängt, ihn nach Stockholm zu bringen? Planen die Vereinigten Staaten von Amerika, seine Auslieferung zu erreichen? Hat ein Reporter überhaupt danach gefragt? (Und wenn wir schon beim Fragen sind – welchen Druck übte die Administration auf die Gelddienstleister aus, die WikiLeaks den Geldhahn zudrehten?)
  • Drittens, gibt es eine Anklage gegen Assange? Es wird berichtet, dass eine geheime Anklage existiert, und nachdem er sich gegen seine Auslieferung wehrt, weil er annimmt, dass das stimmt, ist schwer nachvollziehbar, warum diese geheim bleiben soll.
  • Und zu guter Letzt und am wichtigsten – ist es nicht Zeit für eine leidenschaftslose Beurteilung der Auswirkungen von WikiLeaks? Seit der massiven Weitergabe von militärischen und diplomatischen Daten sind zwei Jahre vergangen. Haben sich die Veröffentlichungen negativ oder positiv ausgewirkt? Hat WikiLeaks ergebene Beamte demoralisiert und vertrauensselige Geheimdienstleute Risiken und Rachemaßnahmen ausgesetzt? Oder wurden Pfeifen geblasen, die geblasen werden mussten, die weltweit Dissidenten stärken, den Arabischen Frühling anheizen, trübselige Nachrichtenmedien ermutigen, sich den offiziellen Kontrollen zu widersetzen, helfen, Despoten von der Macht zu vertreiben? 

Keine dieser Antworten wird allerdings von Medien kommen, die nicht einmal diese Fragen stellen.

 
     
  erschienen am 27. August 2012 in > Miami Herald > Artikel > Website des Autors  
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