HOME     INHALT     INFO     LINKS     ARCHIV     KONTAKT
 
     
     
  Hoppla!!

Ron Unz 

Während alle Augen und Schlagzeilen ganz und gar auf die beiden kaukasischen Bomber in Boston fixiert waren, wurde eine viel verheerendere Katastrophe kaum beachtet, die sich in nächster Nähe abspielte, aber üblicherweise im Innenteil unserer größeren Zeitungen verborgen wird.

Ich beziehe mich hier natürlich auf die Panne mit den Harvarder Kalkulationstabellen, auf die Entdeckung eines Irrtums bei den Berechnungen in der Anfang 2010 erstellten Studie der prominenten Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart. Die Ergebnisse der Rogoff-Reinhart-Studie waren von Regierungsvertretern und internationalen Agenturen auf der ganzen Welt als Beweis für die verheerenden wirtschaftlichen Auswirkungen von angehäuften Staatsschulden angeführt worden. In der Folge legten die meisten Regierungen ihren Schwerpunkt bei der Bewältigung der großen Rezession auf die Notwendigkeit, Ausgaben auf Pump zu minimieren und Budgetkürzungen vorzunehmen, anstatt zu versuchen, die Arbeitslosigkeit mittels gezielter Investitionen á la Keynes zu reduzieren, was laut dieser Studie in die Katastrophe führte. Aber Rogoff-Reinhart hatten bei ihren Berechnungen einen Fehler gemacht, also hoppla! 

Nun bin ich so weit entfernt davon, ein ausgebildeter Wirtschaftswissenschaftler zu sein, als das nach menschlichem Ermessen nur möglich ist, habe nie in meinem Leben einen Kurs für Wirtschaft besucht und erst recht nicht die Seiten eines Lehrbuches aufgeschlagen. Einfacher Hausverstand und Zeitungslektüre sagen mir jedoch, dass die fragliche Panne weltweit gravierende Auswirkungen hatte, geht man davon aus, wie weitgehend die Verschreibungen von Einsparungen von unseren herrschenden Eliten geglaubt und befolgt wurden.

Es sieht so aus, als wären Länder mit insgesamt fast einer Milliarde Menschen erheblich betroffen durch diesen weit verbreiteten Kalkulationsirrtum, mit Billionen von fehlgeleiteten Dollars und wahrscheinlich vielen Millionen Bürgern, die in tiefe Arbeitslosigkeit und Armut getrieben werden. Wenn man bedenkt, dass anhaltender wirtschaftlicher Stress die Lebenserwartung signifikant senkt, dann geht die Anzahl der vorzeitigen Sterbefälle aufgrund dieser fehlerhaften Berechnung von Rogoff-Reinhart wahrscheinlich weit in die Hunderttausende. Der betrunkene Student, der die falschen Zahlen eingetippt hat, ist uns einige Antworten schuldig, oder vielleicht sollten wir Bill Gates klagen, weil er eine so genozidale Waffe verkauft wie Excel.

Nun kann jeder einen Rechenfehler machen, und ich habe sicher schon viele in meinem Leben gemacht, eine Quelle ständiger Demütigung und Schuld. Bedenken Sie jedoch, dass niemand aus unseren Finanz-, Medien- oder akademischen Eliten sich die Mühe gab, diese fehlerhaften Berechnungen zu überprüfen oder zu bestätigen, als die Daten öffentlich zugänglich waren. Stattdessen posaunten sie endlos die Resultate in Medienberichten und Ansprachen hinaus und bestätigten damit wieder einmal eindeutig die totale arrogante Inkompetenz derjenigen, die unsere Welt beherrschen.

Der offensichtliche Grund für diese lächerliche Situation war, dass die Ergebnisse der Rogoff-Reinhart-Studie so perfekt in die orthodoxen Wirtschaftstheorien und das Realitätsverständnis des etablierten Elitedenkens passen, dass sie natürlich als korrekt ansehen wurden; hätten sie etwas anderes vorhergesagt, wären sie sicher überprüft und noch einmal überprüft und noch einmal genau geprüft worden, bis auch nur der kleinste Fehler gefunden worden wäre. Unsere Akademiker und Journalisten glauben, dass bestimmte Dinge wahr sind und neigen einfach dazu, Hinweise zu verwerfen oder zu ignorieren, die nicht mit diesem Bezugssystem konform gehen, während unsere Politiker jede Rede vorlesen, die ihnen der Teleprompter vor die Nase setzt, so wie die Nachrichtensprecher der TV-Netzwerke, denen sie immer ähnlicher werden. Mein Eindruck ist, dass die Ära der Breschnew´schen Stagnation der Sowjetunion nach einem ähnlichen Muster verlief, obwohl deren politische Führer lange nicht so fotogen und geschwätzig waren. 

Welche negativen Auswirkungen wird diese katastrophale Entdeckung auf Karrieren und Glaubwürdigkeit von Rogoff, Reinhart und alle ihre unterstützenden Kollegen und Förderer haben? Überhaupt keine, nehme ich an. Sobald erst ein paar Wochen oder Monate vergangen sind und mehr tschetschenischer Terrorismus oder Prominentenskandale jegliche bleibende Erinnerungen fortgespült haben, dann werden neue und verbesserte wirtschaftliche Vorhersagen von Rogoff-Reinhart auf Basis ihrer gleichen Harvarder Kalkulationstabellen genauso weit verbreitet und geglaubt werden wie ihre vorhergehenden, und die gleichen Wirtschaftsexperten werden sie in Zeitungskommentaren oder Fernsehdebatten anpreisen. Die berühmten Worte Talleyrands über die wiedereingesetzten post-napoleonischen französischen Bourbonenmonarchen fallen einem ein: „Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen.“

Ausgehend von der Entwicklung in unserem Land würde es mich nicht sehr überraschen, wenn eine ausreichend gereizte und verelendete Bürgerschaft letztendlich ins Auge fassen wird, unseren herrschenden Eliten ein sehr bourbonisches Ende zu bereiten, indem sie diese in der selben Weise behandelt, die im späten 18. Jahrhundert gegenüber roi, duc und comte zur Anwendung kam, wobei der Prozess vielleicht außergewöhnlich hohe Ratings erzielen wird, wenn er im nationalen Reality-TV übertragen wird. 

 
     
  erschienen am 22. April 2013 in > The American Conservative > Artikel  
  Ron Unz betreibt die Website www.ronunz.org  
 
siehe dazu im Archiv:
  > Ron Unz - Thalidomide (= Contergan) II und das Schweigen der amerikanischen Medien
  > Ron Unz - Chinesisches Melamin und amerikanisches Vioxx: ein Vergleich
  > Ron Unz - Chinas Aufstieg, Amerikas Niedergang
 
  Die Weiterverbreitung der Texte auf dieser Website ist durchaus erwünscht. In diesem Fall bitte die Angabe der Webadresse www.antikrieg.com nicht zu vergessen!  
  <<< Inhalt