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  'Guter' Krieg, 'Böser' Krieg

John Pilger

 

Vor fünfzig Jahren rettete E.P. Thompsons The Making of the English Working Class (Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse) das Studium der Geschichte vor den Mächtigen. Könige und Königinnen, Landbesitzer, Industrielle, Politiker und Imperialisten hatten einen großen Teil des öffentlichen Gedächtnisses unter ihrer Kontrolle. 1980 zeigte Howard Zinns A Peoples History of the United States (Eine Volks-Geschichte der Vereinigten Staaten) ebenfalls, dass es sich bei den Freiheiten und Rechten, deren wir uns bis auf Widerruf erfreuen – Redefreiheit, Versammlungsfreiheit, Gerichtssystem, Minderheitenrechte – Errungenschaften einfacher Menschen waren, nicht das Geschenk von Eliten. 

Wie Journalisten spielen Historiker ihre ehrenhafteste Rolle, wenn sie Mythen auffliegen lassen. Eduardo Galeanos The Open Veins of Latin America (Die offenen Venen Lateinamerikas, erschienen 1971) schaffte das für die Menschen eines Kontinents, deren historisches Gedächtnis durch die Oberherrschaft der Vereinigten Staaten kolonisiert und verändert worden war.

Der „gute” Weltkrieg von 1939-45 gibt ein unerschöpfliches moralisches Bad ab, in dem die in der „Friedenszeit“ durchgeführten Eroberungszüge des Westens gesäubert werden. Die entmystifizierende historische Untersuchung steht dem im Weg. Richard Overys 1939: The Countdown to War (1939: Der Countdown zum Krieg) ist eine umwerfende Aufklärung darüber, dass diese Katastrophe nicht unabwendbar war.

Wir brauchen derartige Klärungen der Rauchschleier mehr denn je. Die Mächtigen möchten, dass wir glauben, dass die Thompsons, Zinns und Galeanos nicht mehr nötig sind: dass wir, wie das Time-Magazin es ausdrückt, „in einer ewigen Gegenwart“ leben, in der die Reflexion auf Facebook beschränkt und die Präsentation der Geschichte Hollywood vorbehalten ist. Das ist ein Trick, um sich in das Vertrauen zu schwindeln. In 1984 schrieb George Orwell: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ 

Die Menschen Koreas verstehen das gut. Das Massaker auf ihrer Halbinsel nach dem Zweiten Weltkrieg ist bekannt als der „vergessene Krieg,“ dessen Bedeutung für die gesamte Menschheit lange verschwiegen wurde in Militärgeschichten á la Kalter Krieg gegen das Böse. 

Ich habe gerade The Korean War: A History (Der Koreakrieg - Eine Geschichte, erschienen 2010) von Bruce Cumings gelesen, Professor für Geschichte an der Universität von Chicago. Zuvor sah ich Cumings in einem Interview in Regis Tremblays außergewöhnlichem Film The Ghosts of Jeju (Die Geister von Jeju), der den Aufstand der Bewohner der Insel Jeju im Süden Koreas im Jahr 1948 und die Kampagne der heutigen Inselbewohner darstellt, die den Bau einer Militärbasis mit amerikanischen Raketen aufhalten wollen, welche provokant gegen China gerichtet sind.

Wie die meisten Koreaner protestierten die Bauern- und Fischerfamilien gegen die sinnlose Aufteilung ihres Landes 1945 zwischen Norden und Süden – eine Grenze, die von einem amerikanischen Regierungsvertreter, nämlich Dean Rusk, der „etwa um Mitternacht des Tages, an dem wir Nagasaki mit einer Atombombe vernichtet haben, eine Landkarte zu Rate gezogen hat,“ schrieb Cumings, entlang dem 38. Breitengrad gezogen wurde. Der Mythos eines „guten“ Korea (der Süden) und eines „bösen“ Korea (der Norden) war erfunden. 

In der Tat besitzt Korea, Nord wie Süd, eine bemerkenswerte Volksgeschichte des Widerstands gegen Feudalismus und fremde Okkupation, besonders die durch Japan im 20. Jahrhundert. Nachdem die Amerikaner 1945 Japan besiegt hatten, besetzten sie Korea und stellten diejenigen, die gegen die Japaner gekämpft hatten, oft als „Commies“ hin. Auf der Insel Jeju wurden um die 60.000 Menschen durch Milizen massakriert, die von amerikanischen Offizieren unterstützt, gelenkt und in einigen Fällen kommandiert wurden.

Diese und andere Gräueltaten, über die nicht berichtet wurde, bildeten das „vergessene“ Vorspiel zum Koreakrieg (1950-53), in dem mehr Menschen getötet wurden, als Japaner im gesamten Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen sind. Cumings liefert eine frappierende Abrechnung über das Ausmaß der Zerstörung der Städte im Norden: Pjöngjang 75%, Sariwon 95%, Sinanju 100%. Große Dämme im Norden wurden bombardiert, um riesige Wasserschwälle zu entfesseln. „Anti-Personen“-Waffen wie zum Beispiel Napalm wurde an Zivilisten getestet. Cumings hervorragende Untersuchung hilft uns zu verstehen, warum das heutige Nordkorea so eigenartig erscheint: ein Anachronismus, verfestigt durch eine andauernde Mentalität der Belagerung.

„Die ungehemmte Maschinerie des Brandbombenabwurfs wurde drei Jahre lang gegen den Norden entfesselt,“ schrieb er, „und ergab ein Ödland und ein Maulwurfs-Volk, das den Unterschlupf in Höhlen, Bergen, Tunnels und Gräben zu lieben gelernt hatte, eine unterirdische Welt, die zur Grundlage wurde für den Wiederaufbau eines Landes und zum fortwährenden Mahnmal für den Aufbau eines wilden Hasses auf allen Ebenen der Bevölkerung. Deren Wahrheit ist kein kaltes, antiquarisches, nutzloses Wissen,“ zitiert Cumings Virginia Woolf, welche beschreibt, wie das Trauma dieser Art von Krieg „zum Gedächtnis wird.“

Der Guerillaführer Kim Il Sung hatte 1932 begonnen, die japanischen Militaristen zu bekämpfen. Jedes Merkmal, das dem von ihm begründeten Regime angehängt wird – „kommunistisch, Schurkenstaat, böser Feind“ – ist abgeleitet von einem schonungslosen, brutalen, heroischen Widerstand: erst gegen Japan, dann gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, die zudem drohten, Atombomben auf das Geröll abzuwerfen, das ihre Bomber hinterlassen hatten. Cumings deckt die Auffassung als Propaganda auf, dass Kim Il Sung, der Anführer des „bösen“ Korea, ein Lakai Moskaus war. Im Gegenteil, das Regime, das Washington für den Süden, das „gute“ Korea erfand, wurde weitgehend von denen betrieben, die mit Japan und Amerika kollaboriert hatten.

Der Koreakrieg weist eine unerkannte Besonderheit auf. Es geschah in den rauchenden Ruinen der Halbinsel, dass die Vereinigten Staaten von Amerika sich in das verwandelten, was Cumings als „einen Archipel des Weltreichs“ bezeichnet. Als die Sowjetunion in den 1990ern zusammenkrachte, war es so, als wäre der gesamte Planet zum amerikanischen erklärt worden – sonst ...

Aber da ist jetzt China. Die derzeit gebaute Militärbasis auf der Insel Jeju wird gegen die chinesische Metropole Shanghai gerichtet sein, weniger als 300 Meilen entfernt, und das industrielle Kernstück des einzigen Landes, dessen wirtschaftliche Macht wahrscheinlich die der Vereinigten Staaten von Amerika überflügeln wird. „China,“ sagt Präsident Obama laut einer durchgesickerten Notiz, „ist unsere rasch aufkommende strategische Bedrohung.“ Bis 2020 werden nahezu zwei Drittel der Seestreitkräfte der Vereinigten Staaten von Amerika in die asiatisch-pazifische Region verlegt sein. In einem Bogen, der sich von Australien über Japan und darüber hinaus erstreckt, wird China von Raketen der Vereinigten Staaten von Amerika und von mit Atomwaffen bestückten Flugzeugen eingekreist sein. Wird diese Bedrohung für uns alle auch „vergessen“ sein? 

 
     
  erschienen am 18. Februar 2014 auf > Antiwar.com > Artikel  
  weitere Artikel von John Pilger im Archiv  
 
siehe dazu auch im Archiv:
  Bruce Cumings - Koreanische Kriegsspiele
  Jack A. Smith - Hinter dem amerikanisch-nordkoreanischen Getöse
  Matthew Harwood - ‚Sie sahen alle gleich aus’
  Walter Rockler - U.S.-Aggression
  Sheldon Richman - Sie meinen es nicht gut
  Jonathan Turley - Das Große Geld hinter dem Krieg: der militärisch-industrielle Komplex
  Debbie Harbeson - Einige tiefer gehende Gedanken zum Krieg
  Daniel McAdams - Eine Geschichte von zwei Städten: Kiew und Washington
  Paul Craig Roberts - Washington treibt die Welt in den Krieg
 
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