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  Das Verbrechen des “Nicht-Zurück-Schauens”

Glenn Greenwald

Anfang Dezember warf ein Bericht der Universität Seton Hall ernstliche Zweifel auf die Behauptungen der Regierung betreffend die angeblichen zeitgleichen „Selbstmorde“ von drei Gefangenen in Guantánamo im Juni 2006. Ich habe darüber geschrieben. Gestern veröffentlichte Scott Horton von Harper´s Magazine einen außergewöhnlichen neuen Artikel, in dem die offizielle Version noch weiter in Frage gestellt wurde, indem er neue, den Magen umdrehende Beweise lieferte (viele davon von Wächtern in Guantánamo), die die Vermutung nahe legen (ohne Überprüfung oder Schlussfolgerung), dass diese Gefangenen zu Tode gefoltert worden sind, was dann vertuscht wurde, indem ihr Tod als Selbstmord hingestellt wurde. Scotts Artikel sollte in seiner ganzen Länge gelesen werden, obwohl Andrew Sullivan einige der entscheidenden Enthüllungen behandelt hat, einschließlich der Motive der Wächter, die das ganze aufgedeckt haben und der Details der Folter, der diese Gefangenen ausgesetzt worden sind.

Ich möchte zwei Punkte besonders hervorheben:

(1) Die größte einzelne Lüge in der revisionistischen Geschichtsschreibung über den Krieg gegen den Terror ist, dass unsere Folter nur auf eine Handvoll „besonders wertvoller“ Gefangener beschränkt wurde. Laufend tauchen neue glaubwürdige Berichte über Folterungen auf. Das ergibt sich daraus, dass Amerika ein Regime der systematischen Folter in unserem gesamten weltweiten rechtsfreien Anhaltesystem eingeführt und aufrecht erhalten hat. Mindestens 100 Gefangene in amerikanischer Obhut sind während oder aufgrund ihrer Einvernahme getötet worden. General Barry McCaffrey sagte: „Wir haben Menschen unbarmherzig gefoltert. Wahrscheinlich haben wir Dutzende von ihnen dabei ermordet, die Streitkräfte wie die CIA.“ General Antonio Taguba sagte, nachdem er nach der Untersuchung der Misshandlungen in Abu Ghraib herausgefunden hatte, dass diese Teil und Bestandteil der offiziellen Politik waren, abgesegnet auf höchster Ebene der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika, und nicht die Taten ein paar „schurkischer“ Agenten: „Es besteht kein Zweifel mehr daran, dass die derzeitige Administration Kriegsverbrechen begangen hat. Die einzige Frage, die noch beantwortet werden muss, ist die, ob diejenigen, die die Anwendung der Folter angeordnet haben, zur Verantwortung gezogen werden.“

Ungeachtet all dessen bestehen unsere Medien darauf, die Lüge aufrecht zu erhalten, dass sich die Kontroverse rund um die Folter um drei Fälle von Wasserfolter und ein paar „besonders wertvolle“ Gefangene dreht, die ein bisschen rau behandelt worden sind. Deswegen erhielt Hortons Geschichte so wenig Aufmerksamkeit und wurde fast zur Gänze von rechtsgerichteten Kommentatoren ignoriert: weil sie den Kernmythos erschüttert, dass Folter nur in den extremsten Fällen angewendet wurde – diese tickenden-Zeitbombe-Szenarios – wenn es einfach keine andere Alternative gab. Führende amerikanische Medien benutzen aus politischen Gründen nicht einmal das Wort „Folter“. Und das ungeachtet der Tatsache, dass die Misshandlung so brutal und unmenschlich war, dass sie den Tod hilfloser Gefangener – darunter 08/15-Gefangene, nahezu sicher einige von diesen völlig unschuldig – in zahlreichen Fällen zur Folge hatte. Der Tod dieser drei Gefangenen – wie so vieler anderer in ähnlichen Fällen – zeigt auf, wie extrem dieser Mythos ist, der geschaffen wurde, um zu vertuschen, was wirklich getan worden ist.  

(2) Vorfälle wie dieser unterstreichen dramatisch, was nur als die groteske Unmoral des „Schau Vorwärts, Nicht Zurück“-Konsenses bezeichnet werden kann, auf den sich unsere politische Klasse – unter Führung des Präsidenten – geeinigt hat. In den Bush-Jahren beging die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika einige der ungeheuerlichsten Verbrechen, die eine Regierung begehen kann. Sie hat einfach gegen die eigenen Gesetze, gegen Internationales Recht und gegen viele Abkommen verstoßen, denen die Vereinigten Staaten von Amerika schon lange angehören. Ungeachtet dessen hat Präsident Obama nicht nur darauf bestanden, dass diese Verbrechen nicht verfolgt werden sollen, und hat nicht nur sein Justizministerium klar gemacht, dass – höchstens – eine Handvoll niederrangiger Sündenböcke verfolgt werden sollen, nein viel schlimmer, die Regierung Obama hat jede ihr zur Verfügung stehende Waffe benutzt, um diese Verbrechen geheim zu halten, jegliche Verantwortung für diese abzuwenden, ja diese sogar zu wichtigen „Staatsgeheimnissen“ erhoben, womit sie die Struktur von Gesetzlosigkeit und Folter weiterhin aufrecht hält, die die Begehung dieser Verbrechen erst ermöglicht hat.  

Jede Entschuldigung, die Obamas „Schau Vorwärts, Nicht Zurück“ rechtfertigen sollte, hat sich als Schwindel erwiesen (man erinnere sich etwa an die Behauptung, wir könnten Bushs Kriegsverbrechen nicht verfolgen, weil das die Überparteilichkeit gefährden und die Republikaner dann die Gesundheitsreform nicht unterstützen würden). Aber sogar wenn diese Entschuldigungen faktisch richtig gewesen wären, hätte das nichts geändert. Es gibt keine berechtigten Entschuldigungen dafür, seine Augen von Verbrechen dieser Größenordnung abzuwenden und zu erlauben, dass diese nicht untersucht und unbestraft bleiben. Der wahre Grund dafür, dass „Schau Vorwärts, Nicht Zurück“ für unsere politischen und Medieneliten so attraktiv ist, liegt eindeutig darin, dass sie sich dem nicht stellen wollen, was sie ermöglicht und unterstützt haben. Sie wollen weiterhin den Glauben daran aufrecht halten, dass es nur das schnelle und notwendige Waterboarding von drei Gefangenen und ein paar Hiebe für eine Handvoll der Schlimmsten unter den Schlimmsten waren. Nur die Weigerung „zurückzuschauen“ hält die Möglichkeit offen, die Lügen, die sie (der Welt und sich selbst) erzählt haben, aufrecht zu erhalten. Aber wie Hortons Bericht zeigt, gibt es wirkliche Opfer und wirkliche amerikanische Verbrecher – viele davon – und jeder, der will, dass das verheimlicht und vertuscht wird, ist per definitionem Mittäter bei diesen Verbrechen, nicht nur bei denen, die in der Vergangenheit begangen worden sind, sondern auch bei den gleichartigen, die nahezu sicher als Resultat des „Nicht-Zurück-Schauens“ in der Zukunft begangen werden. 

 
     
  Erschienen am 19. Januar 2010 auf > http://www.salon.com > http://www.salon.com/news/opinion/glenn_greenwald/2010/01/19/guantanamo/index.html  
     
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