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  Raubtiersyndrom

 

Robert C. Koehler

 

Auf dem Planeten gibt es 20.000 atomare Waffen, ein Viertel von diesen, abschussbereit zum Zeitpunkt eines selbstmörderischen Impulses, zielen auf Länder, die vor zwei Jahrzehnten aufhörten, Feinde zu sein. Es ist sechs Minuten vor Mitternacht. „Abrüstung“ hat in Amerikas Etagen der Macht so viel Stellenwert wie etwa „Sozialismus“. 

Und das Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika – Gnade seinen bösen Seelen – führte gerade einen Schnitt in die Achillessehne des Friedens. Vor kurzem verabschiedete es das nationale Verteidigungsermächtigungsgesetz 2011 (NDAA – National Defense Authorization Act), das viele ernstlich beunruhigende Elemente enthält, von denen zwei in bemerkenswertem Gegensatz zueinander stehen.

Ein Teil des Beschlusses, der zur Zeit auf dem Weg in den Senat ist, würde dem Präsidenten die einseitige Macht geben, überall auf der Welt den „Krieg gegen den Terror“ zu führen. Wo immer das Böse sitzt, der Präsident könnte dagegen vorgehen, ohne Zustimmung durch den Kongress. Es läuft schon jetzt mehr oder weniger in dieser Weise, aber das würde die Vereinfachung der Kriegsführung legalisieren und dazu beitragen, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika in ihrer Rolle als globale Supermacht völlig jenseits von jeglichen demokratischen Einschränkungen bewegen.  

Ein anderer Teil des Beschlusses erschwert die Verwirklichung des neuen START-Atomwaffenkontrollabkommens zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Russland, das eine bescheidene Reduktion beider Länder auf 1.550 eingesetzte Atomwaffen fordert. Der Beschluss bindet die Verwirklichung des START-Abkommens an die „Modernisierung“ der Waffensysteme, wodurch sichergestellt ist, dass die Reduktion der Sprengköpfe nichts mit Abrüstung zu tun hat.

Lawrence Korb und Alex Rothman führten vor kurzem in einem Artikel in der Huffington Post aus, dass der Beschluss drei Einschränkungen für die Realisierung von START enthält: 

Er sperrt die Verwendung von Mitteln für die Reduktion von Atomwaffen, bis die Ministerien für Verteidigung und Energiewesen ihre Verpflichtung bestätigen, im kommenden Jahrzehnt $180 Milliarden für die Modernisierung der Atomwaffen auszugeben; er verbietet die Ausmusterung nicht eingesetzter Sprengköpfe, bevor zwei Atomfabriken der nächsten Generation in Betrieb gehen (das soll 2024 erfolgen); und in einem „historisch noch nicht da gewesenen Zug,“ schreiben Korb und Rothman, „versucht das NDAA dem Präsidenten die Möglichkeit zu versperren, einseitig die Bestände der Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika unter das von START festgelegte Niveau zu senken oder die atomare Strategie der Vereinigten Staaten von Amerika ohne Zustimmung des Kongresses zu ändern.“ 

In anderen Worten, dieser Beschluss würde dem derzeitigen und allen zukünftigen Präsidenten die Vollmacht erteilen, einseitig Krieg zu führen, das heißt „Krieg gegen den Terror,“ einen nicht gewinnbaren und daher endlosen Krieg gegen ein Konzept oder eine Taktik; er würde aber dem Präsidenten verbieten, einseitig den Frieden zu betreiben durch den Abbau der obszönen Lagerbestände von tausenden nicht eingesetzten, unvorstellbar destruktiven Atomwaffen unter das Niveau des START-Abkommens. 

Die Planung im Bereich der Atomwaffen der Vereinigten Staaten von Amerika basiert auf dem Konzept „weniger, aber neuere – Atomwaffen für immer,“ bemerkte Jackie Cabasso, Geschäftsführerin der Western States Legal Foundation, gegenüber Inter Press Service.

Und das von den Republikanern kontrollierte Repräsentantenhaus ist wild entschlossen, den perfekten Raubtierstaat zu schaffen, der Krieg führen kann ohne die leiseste Notwendigkeit, sich mit Zweifeln auseinanderzusetzen oder auf das Gewissen zu hören.

„Bürger, die auf der Straße kämpfen, werden bestraft,“ schreibt Barbara Ehrenreich in Blood Rites (Blutrituale), ihrer Studie über die Wurzeln des Krieges. „Nationen, die in den Krieg ziehen, werden gefürchtet und oft respektiert. ... Auf einer mehr archaischen Ebene der Vorstellung wird die Nation als Organismus zu etwas, was mehr, oder weniger, als menschlich ist. Hier gibt es eine ‚Kreatur’, die, wie Hegel sagt, Blut braucht, um ihr Leben zu erhalten – das Blut wirklicher Menschen. Wir erkennen, wenn wir die Nation in dieser Weise betrachten, eine weitere Variante des Urfeindes der Menschheit und die ursprüngliche Gottheit: das raubtierhafte Biest.“ 

Das ist unser Dilemma, wir – und der größte Teil der Menschheit, da bin ich mir ganz sicher – auf der anderen Seite der atomaren Trennlinie wollen eine Zukunft für unsere Kinder, die weit vernünftiger ist als die derzeitige Wirklichkeit. Der anhaltende Mythos des Nationalstaates besteht in Eroberung und Beherrschung, und je mehr Macht eine Nation erlangt, desto mehr, fürchte ich, verstrickt sie sich selbst in diesen Mythos. 

Während also historische Kräfte die Vereinigten Staaten von Amerika in eine Rolle der außergewöhnlichen Führerschaft gebracht haben, mit noch nie dagewesener weltweiter Reichweite und Einfluss, fürchte ich, dass in einer Zeit, in der eine neue Art der Weltpolitik entscheidend ist für das Überleben der Menschheit, unsere nationale Vision immer weiter verkümmert ist. Die herrschenden Kräfte im Land, befallen vom Raubtiersyndrom, haben sich festgelegt auf die aussichtslose Sichtweise des Mehr vom Gleichen, wobei diese Sichtweise besonders aussichtslos ist in den Bereichen Atomwaffen und Atomkrieg. 

Atomwaffen für alle Zeiten!

Was braucht es, um eine Änderung zu bewirken, ein Abgehen auf nationaler Ebene von dem Mythos, dass Macht Recht ist? Als Individuen beginnen die meisten Menschen, sich davon vor der Adoleszenz loszulösen. 

Auf nationaler Ebene jedoch steigern sich die schlimmsten unserer Impulse und verbinden sich. Sie werden zum Konsens. Wir werden jetzt von dem Konsens beherrscht, dass die Vereinigten Staaten von Amerika jedes Recht haben, Atomwaffen nicht nur weiterhin zu besitzen, sondern auch zu entwickeln, zu atemberaubenden Kosten, neue Generationen von Atomwaffen, sie effizienter zu machen, besser einsetzbar ... bis zu einem Ende, das keiner zu nennen wagt.

Für diejenigen außerhalb dieses Konsenses ist dieses Ende allerdings deutlich genug. Alles was wir brauchen, ist der richtige Feind.

 
     
  erschienen am 9. Juni 2011 in HUFFINGTON POST > Artikel  
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