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Chinesisches Melamin und amerikanisches Vioxx: ein Vergleich

Ron Unz 

Wenn sie China und Amerika miteinander vergleichen, führen Experten oft unsere freien und unabhängigen Medien an als eine unserer größten Stärken, gemeinsam mit der ungeheuren Wichtigkeit, die dem individuellen amerikanischen Leben in unserer Gesellschaft beigemessen wird. Für uns kann ein einziger ungerechtfertigter Tod manchmal wochenlange massive Berichterstattung in den Medien bewirken und die Nation zu korrigierenden Maßnahmen veranlassen, während das Leben billig bleibt in China, einem viel ärmeren Land mit über einer Millarde Einwohnern, das von einer rücksichtslosen kommunistischen Partei beherrscht wird, die eifrig bemüht ist, ihre Fehler zu vertuschen. Eine Untersuchung von zwei der größten Skandale im öffentlichen Gesundheitswesen in den letzten Jahren lässt jedoch erhebliche Zeifel an dieser weit verbreiteten Meinung aufkommen.

Betrachten wir zuerst die näheren Umstände des chinesischen Säuglingsmilchskandals im Jahr 2008. Skrupellose Geschäftsleute waren draufgekommen, dass sie Geld sparen konnten, indem sie ihre Milchprodukte stark verdünnten und dann eine chemische Kunststoffkomponente namens Melamin zusetzten, um den scheinbaren Eiweißgehalt auf den normalen Stand zu bringen. Nahezu 300.000 Babies in ganz China erlitten dadurch Krankheiten der Harnwege, einige hundert mussten längere Zeit stationär wegen Nierensteinen behandelt werden. Sechs starben. Eine Welle öffentlicher Empörung ging durch die kontrollierten Medien und wischte anfängliche Entschuldigungen der Regierung beiseite, und bald brachte enormer Druck die chinesischen Behörden dazu, mit aller Strenge gegen die Übeltäter vorzugehen.

Die chinesischen Führer mögen nicht demokratisch gewählt sein, aber sie achten sehr genau auf gewichtige Stimmungen in der Öffentlichkeit. Einmal unter Druck, veranlassten sie rasch eine landesweite Untersuchung durch die Polizei, die zu einer Reihe von Verhaftungen führte und Beweise erbrachte, dass dieses weitverbreitete System der Verfälschung von Lebensmitteln von Regierungsfunktionären gedeckt wurde, die Schmiergelder genommen hatten. Lange Haftstrafen wurden großzügig verhängt und ein paar der schlimmsten Übeltäter wurden letztendlich zum Tod verurteilt und hingerichtet, wodurch schrittweise die öffentliche Empörung beschwichtigt wurde. In der Tat war der ehemalige Leiter der chinesischen Lebensmittelbehörde unter ähnlichen Umständen im Jahr 2007 wegen Korruption hingerichtet worden.

Während dieser Ereignisse berichteten die amerikanischen Medien ausführlich, mit zahlreichen Titelgeschichten in unseren führenden Zeitungen. Journalisten fanden heraus, dass ähnliche Methoden der chemischen Verfälschung bei der Produktion von Tierfutter für den Export benutzt worden waren und viele Familienhunde in Amerika in der Folge gelitten haben oder daran zugrunde gegangen sind. In Verbindung mit einer heftigen Berichterstattung in Talk-Radio- und Kabelnetzshows wurden Phrasen wie „chinesische Babymilch“ oder „chinesisches Tierfutter“ zu verärgerten Verunglimpfungen und es war die Rede von einem Verbot ganzer Importkategorien aus einem Land, dessen Standards für Produktsicherheit offensichtlich so weit unter denen in westlichen Gesellschaften lag. Die gerechtfertigten Bedenken einfacher Amerikaner wurden angeheizt von einer Berichterstattung der lokalen Medien, die gelegentlich an Hysterie grenzte.  

Wie auch immer, die Reaktion der amerikanischen Medien war ganz unterschiedlich während eines Gesundheitsskandals, der früher und viel näher zuhause stattfand.

Im September 2004 gab Merck, einer der größten amerikanischen Pharmakonzerne, plötzlich bekannt, dass er freiwillig Vioxx aus dem Verkehr nahm, sein populäres Schmerzmittel, das weitgehend eingesetzt wurde, um Krankheiten im Bereich der Arthritis behandeln. Dieser unvermittelte Rückruf erfolgte nur Tage, nachdem Merck entdeckt hatte, dass eine wichtige medizinische Zeitschrift gerade dabei war, eine schwerwiegende Studie eines Ermittlers der FDA (Lebensmittel- und Drogenbehörde) zu veröffentlichen, die darauf hinwies, dass dieses Mittel das Risiko von tödlichen Herzattacken und Schlaganfällen stark ansteigen lässt und wahrscheinlich die Ursache von mindestens 55.000 amerikanischen Todesfällen in den fünf Jahren war, in denen es sich auf dem Markt befand.  

Innerhalb von Wochen nach dem Rückruf fanden Journalisten heraus, dass Merck starke Beweise für die möglicherweise tödlichen Nebenwirkungen dieses Medikaments noch vor dessen Einführung 1999 vorliegen hatte, aber diese besorgniserregenden Hinweise ignorierte und weitere Untersuchungen vermied, während es die Bedenken seiner eigenen Wissenschaftler unterdrückte. Angekurbelt durch eine $100 Millionen im Jahr teure Werbekampagne im Fernsehen wurde Vioxx bald eines der lukrativsten Produkte von Merck und erbrachte einen Jahresumsatz von $2 Milliarden. Merck ließ auch insgeheim Dutzende von Forschungsstudien verfassen, in denen die wohltätigen Auswirkungen des Mittels betont und die Ärzte ermutigt wurden, dieses in großem Ausmaß zu verschreiben, es wurde also Wissenschaft in ein Marketing-Hilfsmittel umgewandelt. 25 Millionen Amerikaner bekamen letztendlich Vioxx verschrieben als Alternative zu Aspirin mit angeblich weniger Nebenwirkungen.

Obwohl der Vioxx-Skandal sicher einige Tage lang auf den Titelseiten der Zeitungen zu finden war und zwischendurch immer wieder auf die Titelseiten zurückkehrte, während die nachfolgenden gerichtlichen Verfahren ihren Weg durch das Justizsystem nahmen, erschien die Berichterstattung doch dürftig angesichts der Anzahl der geschätzten Todesopfer, die das Ausmaß der gesamten amerikanischen Verluste im Vietnamkrieg erreichten. In der Tat schien die Berichterstattung in den Medien bei weitem nicht das Ausmaß anzunehmen, das sie später im chinesischen Babymilchskandal erreichte, der gerade einmal eine Handvoll Toter auf der anderen Seite der Erdkugel verursacht hat.

Die Umstände rund um diesen Fall waren ganz besonders unerhört, mit vielen zehntausenden amerikanischen Toten infolge des Verkaufs eines hoch lukrativen, aber gelegentlich tödlichen Mittels, dessen gesundheitsgefährdende Auswirkungen ihrem Hersteller schon lange bekannt gewesen waren. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen dafür, dass jemals eine Strafverfolgung in Erwägung gezogen wurde.

Eine massive Sammelklage zog sich jahrelang durch die Gerichte und wurde letztendlich 2007 für $4,85 Milliarden gütlich beigelegt, wobei nahezu die Hälfte dieses Betrages an die Anwälte ging. Die Gesellschafter von Merck bezahlten auch hohe Summen, um verschiedene andere Verfahren zu regeln, für Geldstrafen der Regierung und für die hohen Kosten all dieser Verfahren. Die größte finanzielle Bestrafung ergab sich jedoch durch den Ausfall des weiteren Verkaufs von Vioxx, was einen beunruhigenden Einblick in die Kosten-Nutzen-Kalkulation hinter den Kulissen der Firmenfassade ergibt. Als der Skandal ausbrach, brachen die Aktienpreise von Merck zusammen, und es herrschte weitgehend die Ansicht, dass die Firma das nicht überleben werde, besonders nachdem Beweise über ein vorbedachtes Komplott der Firma auftauchten. Stattdessen erreichte der Kurs der Merck-Aktien im Jahr 2008 neue Höhen und steht heute nur 15 Prozent unter dem Stand vor der Katastrophe. 

Des Weiteren treffen Individuen Entscheidungen, und nicht Kapitalgesellschaften, und keines der Individuen hinter Mercks tödlichen Entscheidungen hatte irgendwelche ernsthaften Konsequenzen zu tragen. Im Jahr nach dem Auffliegen des Skandals trat Mercks langjähriger CEO zurück, behielt aber die $50 Millionen, die er als Belohnung in den vergangenen fünf Jahren kassiert hatte, großteils aufgrund der lukrativen Vioxx-Verkäufe. Höhere FDA-Beamte (FDA – amerikanische Lebensmittel- und Drogenbehörde) entschuldigten sich für für die fehlende effektive Überwachung und versprachen, sich in Zukunft zu bessern. Amerikanische Medienkonzerne betrauerten still den Verlust teurer Vioxx-Werbeeinschaltungen, fuhren aber fort mit dem Verkauf derselben Werbeflächen an Merck und deren Konkurrenten für die Werbung für andere und neue Medikamente, während ihre investigativen Reporter sich bald darauf auf die Schrecken chinesischer Säuglingsnahrung und die endemische Korruption in der chinesischen Gesellschaft stürzten.

Diese Geschichte schwerwiegenden gesetzwidrigen Verhaltens von Firmen, das von Regierung und Medien vergessen und vergeben worden ist, ist deprimierend genug, aber sie lässt noch ein entscheidendes Detail offen, das fast gänzlich der öffentlichen Aufmerksamkeit entwischt zu sein schein. Im Jahr nach dem Rückzug von Vioxx aus dem Markt veröffentlichten die New York Times und andere größere Medien eine kurze Nachricht, irgendwo in der Nähe des unteren Randes auf einer der hinteren Seiten, welche besagte, dass die amerikanischen Sterberaten plötzlich überraschend und völlig unerwartet gesunken waren. 

Die Überschrift des kurzen Artikels, der am 19. April 2005 in USA Today erschien, war typisch: „Die Vereinigten Staaten von Amerika verzeichnen den größten Rückgang bei den jährlichen Sterbefällen seit zumindest 60 Jahren.“ In diesem Jahr waren die amerikanischen Sterbefälle um 50.000 gesunken, trotz des Wachstums und der Alterszunahme der Bevölkerung des Landes. Die Gesundheitsexperten der Regierung wurden zitiert - sie waren äußerst „überrascht“ und „kratzten sich am Kopf“ aufgrund dieser eigenartigen Anomalie, die angeführt wurde von einem scharfen Rückgang von tödlichen Herzattacken.

Am 24. April 2005 brachte die New York Times eine weitere ihrer langen Geschichten über die anhaltende Kontroverse um Vioxx, wobei sie enthüllte, dass Funktionäre von Merck wissentlich Beweise dafür vertuscht hatten, dass ihr Medikament das Risiko von Todesfällen aufgrund von Herzproblemen erheblich erhöhte. Der Journalist der New York Times erwähnte nicht den anscheinend unerklärlichen Rückgang der nationalen Sterbequote, der aufgetreten war, nachdem das Medikament vom Markt genommen worden war, obwohl darüber in seiner eigenen Zeitung nur ein paar Tage davor berichtet worden war.

Eine flüchtige Überprüfung der landesweiten Sterbestatistiken der letzten 15 Jahre, die auf der Website des Center for Disease Control and Prevention zu finden ist, liefert einige verblüffende Hinweise zu diesem Mysterium. Wir sehen, dass der größte Anstieg der amerikanischen Sterbequoten im Jahr 1999 auftrat, dem Jahr, in dem Vioxx eingeführt wurde, während der größte Abfall 2004 erfolgte, dem Jahr, in dem dieses zurückgezogen wurde. Vioxx wurde fast zur Gänze an die Alten verkauft, und diese wesentlichen Änderungen der nationalen Sterbequote fanden nahezu ausschließlich im Bereich der Bevölkerung über 65 Jahren statt. Die Untersuchungen der FDA hatten ergeben, dass der Gebrauch von Vioxx zum Tod durch kardiovaskuläre Krankheiten wie Herzattacken und Schlaganfälle führte, und diese waren genau die Faktoren, die die Änderungen bei den nationalen Sterberaten bewirkten. 

Die Auswirkung dieser Veränderungen war nicht gering. Nachdem sie ein Jahrzehnt lang im Großen und Ganzen konstant verlaufen war, begann die gesamtamerikanische Sterberate 2004 beträchtlich abzufallen, bald um ungefähr 5 Prozent, ungeachtet der fortgesetzten Alterszunahme der Bevölkerung. Dieser Abfall entspricht etwa 100.000 Sterbefällen weniger pro Jahr. Der altersbezogene Rückgang bei den Sterbequoten war beträchtlich größer.

Muster von Ursache und Wirkung können nicht leicht bewiesen werden. Wenn wir aber annehmen, dass ein direkter Zusammenhang besteht zwischen dem Rückzug einer Gruppe von sehr populären Medikamenten, die nachweislich tödliche Herzattacken und andere tödliche Krankheiten bewirken, und dem plötzlichen Abfall in der nationalen Sterberate bei tödlichen Herzattacken und anderen tödlichen Krankheiten, dann sind die statistischen Schlussfolgerungen sehr gravierend. Vielleicht 500.000 oder mehr vorzeitige amerikanische Sterbefälle könnten auf Vioxx zurückzuführen sein, eine Zahl, die erheblich größer ist als die 3.468 namhaft gemachten Toten, die von Merck beim Abschluss des rechtlichen Verfahrens anerkannt worden sind. Und kaum jemand im Bereich unserer politischen oder Medieneliten scheint eine Ahnung von dieser Möglichkeit zu haben oder sich darum zu kümmern. Eine Kolumne im Wall Street Journal forderte neulich sogar eine Lockerung der FDA-Restriktionen zur Vermeidung von „seltenen nachteiligen Ereignissen,“ welche eingeführt worden waren nach der Entdeckung von „unerwarteten Nebenwirkungen von hochkarätigen Medikamenten wie Vioxx.“ 

Es gibt offenkundige mildernde Unterschiede zwischen den beiden nationalen Reaktionen. Die chinesischen Opfer waren Kinder, und ihre Leiden an Nierensteinen und anderen Krankheiten standen in direkter Verbindung zu gesundheitsschädlichen Stoffen, die sie zu sich genommen hatten. Im Gegensatz dazu waren die amerikanischen Opfer fast ausschließlich alte Menschen, und es gab keine Möglichkeit festzustellen, ob eine bestimmte Herzattacke durch Vioxx oder andere Faktoren verursacht worden war, der Beweis, welcher nahelegte, dass es das Medikament war, war rein statistisch, über eine Gruppe von Millionen von Patienten hinweg. Da weiters die meisten der Opfer sich ohnehin ihrem Lebensende näherten, war das Resultat eher eine Beschleunigung des Unvermeidlichen als die vorzeitige Beendigung eines jungen Lebens, und plötzliche tödliche Herzattacken sind schwerlich die unangenehmste Todesart. 

Vor dem Hintergrund dieser wichtigen Faktoren müssen wir dennoch die Zahlen bedenken, um die es geht. Amerikanische Journalisten schienen einem halben Dutzend von Todesopfern in China mehr Aufmerksamkeit zu schenken als den vorzeitigen Todesfällen von bis zu 500.000 ihrer amerikanischen Mitbürger.

Die unausweichliche Schlussfolgerung ist, dass in der Welt von heute und in der Meinung unserer eigenen Medien amerikanische Leben sehr billig sind, im Gegensatz zu denen in China.

 
     
  erschienen am 18. April 2012 auf > The American Conservative > Artikel  
  Ron Unz ist Herausgeber von The American Conservative und Gründer von Unz.org.  
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