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  Der am höchsten geschätzte Akt der Demokratie

Robert C. Koehler

 

Demokratie! Ein Wort, eine Lebensform, unser höchstes Ideal: Alle sind gleich, keiner wird an den Rand gedrängt.

Ich fühle noch immer die Kraft dieses Wortes, wenn auch die mittlere Silbe – “mock” (Attrappe, Fälschung, Gespött) – zunehmend dominanter wird, wenn ich es höre, überhaupt jetzt, wo die Wahlsaison wieder heranrollt. Dem Ausmaß meiner Gleichgültigkeit gegenüber dieser Wahl steht etwas gegenüber, das sich wie Trauer anfühlt. Das System, unter dem wir leben, ist ...

Mir fehlen die Worte. Entschuldigen Sie und lassen Sie mich Nietzsche zitieren.

„Gott ist tot. Gott bleibt tot. Und wir haben ihn getötet. Wie sollen wir uns trösten, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste von allem, was die Welt je besessen hat, ist unter unseren Messern verblutet: wer wird dieses Blut von uns abwischen? Wo ist das Wasser, mit dem wir uns reinigen könnten? Welche Feste der Sühne, welche geheiligten Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selbst zu Göttern werden, nur um ihrer würdig zu erscheinen?“

Schreiben ist entweder ein Akt der Hoffnung oder ein Akt des Zynismus, und ich habe mich immer dazu bekannt, in meinen Kommentaren zu laufenden Ereignisse ersteres anzustreben, egal wie beunruhigend diese Ereignisse auch sein mögen. Aber jetzt fühle ich, dass ich mich auf der Grenze zum Zynismus bewege: Das System, unter dem wir leben, ist ein Scherz, eine Farce, eine kalkulierte Lüge. Ich sage das als einer, der tief daran geglaubt hat, der unsere Geschichte der expandierenden Gleichberechtigung begrüßt hat. 

Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika galt einst nur für weiße Besitzende, aber im Lauf des Lebens meiner Großeltern, meiner Eltern und in meinem eigenen Leben erlebten wir, wie sich der moralische Bogen des Universums in Richtung Gerechtigkeit erweiterte. Das Wahlrecht wurde ausgeweitet. Immer mehr Menschen zählten und bekamen das Recht, sich an der Entwicklung unserer Gesellschaft zu beteiligen. Das war menschlicher Fortschritt, und das war gut.

Die Agenden verschiedener spezieller Interessen waren immer mit auf dem Bild, natürlich. Rassismus lauerte ständig, benutzbar für Ausbeutung. Wahlen konnten gefälscht sein. Mit dem Beginn der elektronischen Stimmabgabe war Wachsamkeit entscheidender als je zuvor. Ich begrüßte und hielt die Wachsamkeit hoch: faire Wahlen hielten die Gesellschaft zusammen. Ich glaubte noch immer an Demokratie. Ich glaubte, dass sie im Grunde genommen eine positive Kraft war.

Dieser Glauben ist in den letzten sechs Jahren abgeklungen. Meine Reaktion auf den folgenden Satz machte mir bewusst, wie leer mein Glaubensreservoir geworden ist. Bill Moyers und Michael Winship schrieben über den Schwall von Wählerregistrierungsgesetzen und anderen zynischen Bemühungen der Republikaner, verschiedene unbeliebte Wählergruppen von den Wahlen fernzuhalten:

„Der wirkliche Grund für die Gesetze besteht in der Verringerung der Wahlbeteiligung, an der Macht zu bleiben, indem man diejenigen, die in der Opposition sind, davon abhält, ihr heiliges Recht auszuüben – es Minderheiten schwer zu machen, armen Leuten und Studenten und anderen, sich an dem am höchsten geschätzten Akt der Demokratie zu beteiligen.“

Ich fühlte, wie die Ungeduld in mir hochstieg. Wählen – „der am höchsten geschätzte Akt der Demokratie“ – ist jetzt ein völlig entleertes Ritual, oder schien es wenigstens einen zutiefst entmutigenden Augenblick lang zu sein. Ich merkte, dass ich den Glauben daran als ein Instrument sozialer Veränderung, einen Ausdruck des moralischen Bogens des Universums aufgegeben hatte. Das Graffiti eines Zynikers schien der Wahrheit näher zu sein: „Wenn wählen etwas ändern könnte, dann wäre es verboten.“ Und das Bild neben dem Graffiti war das von Barack Obama.

Nach acht Jahren George Bush und dem verheerenden Krieg gegen den Terror kam Obama in einem Aufschrei nach Frieden, so tiefgehend wie ich je einen gehört habe. Seine Unterstützung war allgemein. Er hatte, so schien es, einen Auftrag für tiefgreifende Veränderung. Aber seine Amtsführung – seine bereitwillige Annahme des Militarismus im Mittleren Osten und die Expansion der Kriegsführung mit Drohnen, seine Verteidigung der NSA und die Megabespitzelung im eigenen Land, neben vielem anderem – hat klar gemacht, dass dieser Auftrag keine Rolle spielt und dass es nie um diesen gegangen ist. 

Auftrag oder kein Auftrag, die Kontrollinteressen des amerikanischen Imperiums verlangen von beiden Parteien getragene Huldigung. Sie lassen sich nicht aus der Macht abwählen.

Das Befassen mit der Realität der Obamajahre hat mein Denken über die Demokratie selbst verändert, und darüber hinaus über das Konzept eines Landes, das aus dem Hexenkessel endlosen Kriegs entsprungen ist und, so fürchte ich, in erster Linie als die effizienteste Form der Perpetuierung des Kriegs existiert. Der Eckpfeiler des Landes ist Selbstverteidigung und ein Gefühl von Erhabenheit über andere Länder, Werte, die ständig herufbeschworen werden und nie dabei versagen, das erwünschte Ergebnis liefern. Wir sind organisiert, um in den Krieg zu ziehen, und Demokratie – wählen – ändert daran nichts, auch wenn wir das weiterhin glauben. 

“Die Proletariate jedes Landes, die an Zahl und Stärke anwachsen, sind dazu bestimmt, gegeneinander Krieg zu führen,“ schrieb Michael Parenti vor kurzem in einer Abhandlung über den Ersten Weltkrieg in Common Dreams. „Womit könnte man sie besser fangen und in die Irre leiten als mit dem Strudel gegenseitiger Zerstörung. Mittlerweile beschuldigen die Länder sich gegenseitig wegen des Kriegs.“

Und der Erste Weltkrieg, der Krieg, der das Ende aller Kriege herbeiführen sollte, zeugte den Zweiten Weltkrieg, welcher, wie William Rivers Pitt in Truthout schreibt, „nie aufgehört hat, weil die Produktion von Kriegsmaterial die Produzenten reich gemacht hat über alle Träume der Habsucht hinaus, und diese begannen, Einfluss auf die amerikanische Politik auszuüben ...

Und der Kalte Krieg hörte auf und „... gütiger Gott,” fährt Pitt fort, „wie das Geld hereinrollte, weil Konflikt um des Konflikts willen Jahrzehnte lang die treibende Gesinnung in Vietnam und Laos und Kambodscha und Afrika und Südamerika und Lateinamerika und besonders im Mittleren Osten wurde ...“

Und die Situation eskaliert weiter und Obama kann und wird sie nicht aufhalten, und der nächste Präsident, den wir „wählen” auch nicht. Vielleicht ist Demokratie noch immer ein brauchbares Konzept. In mir steckt noch eine Spur von Hoffnung, dass sie das ist. Aber der am höchsten geschätzte Akt in der Demokratie muss etwas werden, was tiefer greift, als einen Hebel zu ziehen oder ein Kreuz in ein Kästchen zu machen.

 
     
  Archiv > Artikel von Robert C. Koehler auf antikrieg.com  
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  Paul Craig Roberts - Was uns Obama in West Point sagte
  Debbie Harbeson - Einige tiefer gehende Gedanken zum Krieg
  Philip Giraldi - Der Folterbericht des Senats verschwindet
  John Pilger - V I E T N A M - Psychokrieg gegen die Geschichte
  David Swanson - Das Pentagon versucht, aus Verlierern Sieger zu machen
  Oded Na'aman - Die Kontrollstelle
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  Paul Craig Roberts - Privatisierung ist ein Sprungbrett für Korruption, Gleichgültigkeit ist ein Sprungbrett für Krieg
 
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